Sonntag, 23. November 2014

Die Ukraine und die deutsche Außenpolitik im neuen "Spiegel"


Der neue gedruckte Spiegel (Nr 48 - 2014) macht mit einer Titelstory zum gefährlichen Scheitern der deutschen Ukrainepolitik auf.
Versucht das Titelbild noch zwei gleiche bornierte politische Spieler, Merkel und Putin gegeneinander zu stellen, allerdings Merkel nur mit kämpfenden Fahnen und Putin anarchischen aggressiven Milizen, so lautet die Formel in Inneren anders:
Alles nur Mißverständnisse durch unprofessionelles Unterschätzen oder Nicht-Wahrnehmen der Ansichten und Empfindlichkeiten der russischen Seiten durch die EU und die Bundesregierung, dagegen habe
Russland hat den Willen der Ukrainer unterschätzt, ihr Land an die EU
heranzuführen, und zu sehr auf seine machtpolitischen Hebel vertraut.
Die Wahl zwischen EU und Rußland, vor die die EU und die BRD die Ukraine gestellt habe sei falsch gewesen.
Von Interessen von Regierungen, Staaten und ökonomischen Subjekten, und von geostrategischen Expansions- oder militärischen Bedrohungsszenarien ist nicht die Rede. Eine Zeitleiste der Ukrainekrise kommt ganz ohne die Natoausdehnung aus.
Dafür dann im nächsten Artikel die Spekulationen darüber ob der "Westen" denn nun versprochen habe, die Nato nicht auszudehnen, oder unverbindlich geblieben sei. Und die Russen hätten ihre Bedenken auch nicht richtig deutlich gemacht!
Man muß wohl den Artikel als eine Art Notbremse ansehen - keinen Schritt weiter in Richtung Abgrund der Konfrontation. Von den wirtschaftlichen Schäden für die BRD-Industrie ist schon gar nicht mehr die Rede. Damit hatte ja das Handelsblatt in drei Sondernummern mit offener Unterstützung von Bundesdeutscher Konzernprominenz versucht, die Bundesregierung von ihrem Kurs der blinden Gefolgschaftstreue gegenüber den USA abzubringen.
Im Spiegel kommen die USA bei der Ukraine-Krise gar nicht vor!
Keine Vasallentreue, keine Unterwerfung, alles Eigeninteresse!
Noch ist unklar, ob dies die Hauptfunktion der Anklage gegen die Koalitionäre und besonders Frau Merkel ist - die globalstrategischen Interessen USA im Nebel der Unfähigkeiten und Engstirnigkeiten der EU und der bundesdetuschen Führung verschwinden zu lassen.
Heute Abend bei eine neuen Talk-Runde bei Jauch, mit wieder mehrheitllich einschlägigen anti-russischen Gästen (u.a. Biermann als Ostexperte!) wird man besichtigen können, wieweit die öff.-rechtl. Medien die Konfrontation weiter anheizen - oder der Warnruf aus den Kreisen der deutschen Bourgeoisie langsam auch den eifrigen Propagandisten läutet. Am Donnerstag bei Frau Illner, war jedenfalls noch alles auf Krawall gebürstet!

JM

hier einige Auszüge aus den beiden erwähnten Artikeln im neuen Spiegel (48-2014, S. 22 ff)

Am Nullpunkt

Europa Im Konflikt mit Russland scheint eine politische
Lösung weiter entfernt denn je. Bundesregierung und EU
haben ihre Diplomatie ausgereizt. Die Fassade einer
geschlossenen Haltung der Bundesregierung bricht auf

Philip Breedlove ist umringt von Gesprächspartnern,
er schaut umher, er
braucht einen Stift. Sein Berater
reicht ihm einen, der Kugelschreiber verschwindet
fast ganz zwischen den breiten
Fingern des amerikanischen Vier-Sterne-
Generals. Dann malt er in flinken Strichen,
vermutlich nicht zum ersten Mal, die Umrisse
der Ukraine auf die Rückseite einer
weißen Menükarte. Darin dann die jener
Gebiete, die unter Kontrolle der prorussischen
Separatisten im Osten des Landes
stehen.
Das ist die Gegenwart. Danach kommt
die Zukunft.
Breedlove, Oberbefehlshaber der Nato
in Europa (Saceur), sagt an diesem Montag
in Berlin, was er später auch in einem Interview
mit der FAZ erklären wird: Die
von Russland unterstützen Kräfte wollen
„aus den jetzt beherrschten Gegenden ein
stärker zusammenhängendes, ein genauer
umrissenes Gebiet machen“. Was fehlt, ist
der Flughafen bei Donezk und der Landzugang
zur Krim über die ukrainische Hafenstadt
Mariupol. Beide sind noch in der
Hand der ukrainischen Regierung.
Was wird die Antwort der Europäer und
der Nato sein? Gibt es überhaupt eine?
„Warten Sie es ab“, sagt der General.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach
einem gescheiterten EU-Gipfel zur öst -
lichen Partnerschaft (siehe Seite 26) ist in
Europa nur noch wenig, wie es war. Aus
dem Partner Russland wurde ein Gegner,
Grenzen sind verschoben, Soldaten in
Marsch gesetzt, Unschuldige wurden getötet.
Viel ist geschehen, von dem man glaubte,
es würde nie wieder geschehen. Nie
wieder zumindest auf einem Kontinent,
der wie kein zweiter das Blut von Millionen
vergossen hat. Der seine Lektion gelernt
haben sollte.
Angela Merkel spricht öffentlich davon,
dass das „internationale Recht mit Füßen
getreten“ werde. Gedacht haben mag sie
das schon öfter, für ein weltweites Publikum
ausgesprochen hat sie es noch nie. Es
ist eine Kampfansage, eine Zäsur und damit
auch der vorläufige Strich unter ein
Jahr diplomatischer Bemühungen. Die waren
gewiss nicht wertlos, aber sie scheinen
jetzt ausgereizt. Es gibt kaum noch Hoffnung,
das, was seither geschehen ist, rückgängig
zu machen. Nicht die Annexion der
Krim, nicht die drohende Abspaltung der
Ostukraine. „Alle sind irgendwie erst einmal
am Ende ihres Lateins“, heißt es in
Berliner Regierungskreisen.
Der Nullpunkt ist also erreicht, und das
ist ein gefährlicher Moment.
In der Europäischen Union gehen die
Interessen der 28 Mitgliedstaaten immer
deutlicher auseinander. Den Südländern
ist eine harte Haltung gegenüber Russland
tendenziell weniger wichtig als den Osteuropäern,
bislang bildete die Bundesregierung
die Brücke zwischen beiden Lagern.
Aber in Berlin zeigen sich erstmals
nennenswerte Unterschiede in der Lagebeurteilung,
Dienstag beim Koalitionsausschuss
dürften sie weiter aufbrechen. Die
Union steht gegen die SPD, CSU-Chef
Horst Seehofer und Kanzlerin Merkel gegen
Außenminister Frank-Walter Stein -
meier und SPD-Chef Sigmar Gabriel.
„Die größte Gefahr ist, das wir uns auseinanderdividieren
lassen“, sagte die Kanzlerin
am vergangenen Montag in Sydney.
Wahr ist: So groß war die Gefahr noch nie,
seitdem die Krise begann. Ist es das, worauf
der russische Präsident gewartet hat?
Wie die russische Strategie funktioniert,
erlebte Steinmeier am vergangenen Dienstag.
Der Außenminister stand in Moskau
neben seinem russischen Kollegen Sergej
Lawrow, der die engen Beziehungen pries:
„Es ist gut, lieber Frank-Walter, dass du
trotz der zahlreichen Gerüchte der letzten
Tage an unserem persönlichen Kontakt
festhältst.“ Steinmeier revanchierte sich,
indem er strittige Themen wie die russischen
Waffenlieferungen an die ukrainischen
Separatisten nicht öffentlich kritisierte.
Anschließend empfing ihn Wladimir
Putin, eine seltene Ehre.
Der deutsche Außenminister ist Profi
genug, um sich über die russischen Nettigkeiten
nicht zu wundern. Während die
Kanzlerin Putin bei einem Auftritt in Sydney
scharf attackierte und sagte, der Westen
dürfe „nicht zu friedfertig“ sein, schlug
Steinmeier am selben Tag in Brüssel weitaus
sanftere Töne an. Ohne Merkel zu erwähnen,
mahnte Steinmeier zur verbalen
Mäßigung: Der Westen müsse aufpassen,
„dass wir auch in der Benutzung unserer
öffentlichen Sprache uns nicht die Mög-
Entschärfung des Konflikts beizutragen.“
Der Außenminister wusste zu diesem
Zeitpunkt, dass Putin ihn möglicherweise
empfangen würde. Man könnte seine Einlassungen
also auch als Versuch lesen, den
Termin im Kreml nicht zu gefährden.
Es war das erste Mal seit Ausbruch der
Krise, dass Risse in der gemeinsamen Haltung
von Merkel und Steinmeier sichtbar
wurden. In der Bewertung des russischen
Vorgehens sind sie sich einig. Unterschiedliche
Ansichten haben sie darüber, wie
man den Russen in den nächsten Wochen
am besten begegnen soll. Das aber ist inzwischen
die alles entscheidende Frage.
Merkel hält es für wichtig, Putin nun
auch öffentlich darauf hinzuweisen, wie
seine Haltung im Westen gesehen wird und
was auf dem Spiel steht. Sie glaubt, dass
der russische Präsident nur auf klare Ansagen
reagiert – wenn er es überhaupt tut.
werden, dürfte sich am Dienstag beim Ko -
a litionsausschuss im Kanzleramt zeigen.
„Ich will dann Klarheit von Sigmar Gabriel:
Unterstützt die SPD die Bemühungen
unserer Kanzlerin oder nicht?“, sagt
CSU-Chef Horst Seehofer. Der Westen
müsse zusammenstehen, mahnt er. Und
erst recht gelte das für die Bundesregierung.
Auch in seiner Partei gebe es allzu
russlandfreundliche Strömungen, die er in
Schach halten müsse. „Die sagen sonst:
Warum gestatten wir der SPD diese russlandfreundliche
Haltung, den eigenen Leuten
innerhalb der CSU aber nicht?“ Von
Außenminister Steinmeier will Seehofer
fordern, die harte Linie der Kanzlerin nicht
zu verlassen. „Ich kenne Herrn Steinmeier
als besonnenen Diplomaten. Und wir
brauchen auch den Dialog mit Russland“,
sagt Seehofer. „Doch wenn Herr Stein -
meier eine eigene Diplomatie neben der
Bundeskanzlerin betriebe, so wäre das
brandgefährlich.“
Am vergangenen Mittwoch nahm die
Kanzlerin den Außenminister am Rande
der Kabinettssitzung zur Seite. Sie überzeugte
ihn davon, das für diese Woche geplante
Treffen des Petersburger Dialogs zu
verschieben. Steinmeier stimmte zu, die
enge Verbindung des Dialogs mit dem
Deutsch-Russischen Forum zu trennen, das
von seinem Vertrauten Matthias Platzeck
geleitet wird. Der hatte in einem Interview
angeregt, die Annektierung der Krim völkerrechtlich
zu regeln – und damit anzu-
24 DER SPIEGEL 48 / 2014
FOTOS S. 22/23: JACK TRAN / NEWSPIX / ACTION PRESS; NIKKI SHORT / AFP (R.U.)
Dahinter steckt die Sorge, die prorussischen
Separatisten könnten die Ostukraine
dauerhaft abspalten und der Westen müsste
sich damit abfinden. In diesem Fall hätte
sich zum dritten Mal seit dem Ende der
Sowjetunion die russische Strategie durchgesetzt.
Vom Staatsgebiet Georgiens sind
die Regionen Südossetien und Abchasien
unter russischer Kontrolle, in Moldawien
ist es die Region Transnistrien. Die Folge:
Keines der Länder kann in diesem Zustand
der Nato beitreten, weil eine Grundbedingung
dafür ist, Grenzstreitigkeiten mit
Nachbarn zuvor beigelegt zu haben.
Steinmeier will vermeiden, die Russen
zu provozieren. Er fürchtet, das zwinge
Moskau stärker in eine Verteidigungshaltung
und mache eine Zusammenarbeit in
anderen Bereichen, etwa bei den Atomverhandlungen
mit Iran, noch schwieriger. Wie
ernst die Differenzen zwischen Kanzlerin
und Außenminister inzwischen genommen


erkennen. „Der Klügere“ müsse auch mal
nachgeben, hatte Platzeck hinzugefügt. Im
Kanzleramt hat man sich über diesen Satz
besonders geärgert. Steinmeier tut sich
schwer damit, sich von seinem Freund zu
distanzieren (siehe Interview).
Merkel hat sich auf die Seite einer Gruppe
von Moskau-Kritikern geschlagen, die
den Petersburger Dialog, der eigentlich
das Gespräch zwischen den Zivilgesellschaften
fördern soll, grundlegend um -
bauen wollen. Dazu zählen der stellvertretende
Unionsfraktionschef Andreas
Schockenhoff, die Grünen-Bundestagsabgeordnete
Marieluise Beck und Vertreter
von mehreren Nichtregierungsorganisationen.
Sie fordern in einem Eckpunktepapier
unter anderem, dass Stiftungen und andere
gesellschaftliche Gruppen stärker am Peterburger
Dialog beteiligt werden. Außerdem
wollen sie einen neuen Vorstand.
Damit dürfte die Zeit des letzten DDRMinisterpräsidenten
Lothar de Maiziere
an der Spitze des deutschen Lenkungsausschusses
vorüber sein. Er gilt im Kanzleramt
als zu unkritisch gegenüber Russland.
Auch Platzeck, der sich Hoffnung auf die
Nachfolge gemacht hatte, kommt nach seinen
jüngsten Äußerungen nicht mehr
infrage. „Wer Völkerrechtsbruch und militärische
Aggression legalisieren will, dem
fehlt die kritische Distanz gegenüber den
russischen Partnern“, sagt Schockenhoff.
In den anderen EU-Hauptstädten ist
man besorgt über die Differenzen zwischen
Kanzleramt und Außenministerium.
Allen ist klar, „dass nur Berlin mit den
Russen auf Augenhöhe verhandeln kann“,
drückt es der Botschafter eines großen EUPartners
aus. Die baltischen Länder und
Polen sorgen sich, dass Steinmeier die klare
Linie Berlins in der Ukrainefrage verlassen
könnte.
Beim Treffen der Außenminister am
vergangenen Montag erhielten solche Sorgen
Nahrung. Die Außenbeauftragte der
EU, Federica Mogherini, schlug vor, weitere
Russen auf die rote Sanktionsliste der
EU zu setzen. Doch Steinmeier machte
sich überraschend für eine Formulierung
stark, die sich nur auf die Separatisten in
der Ukraine bezog. Zur Begründung führte
er laut Teilnehmern an, beim G-20-Gipfel
im australischen Brisbane hätten sich
„neue Kanäle“ nach Moskau aufgetan, die
man nicht gleich wieder zuschütten solle.
Nicht nur der litauische Außenminister
rieb sich die Augen und widersprach heftig.
Auch Polen und Esten waren gegen
eine Schonung der Russen; sie hatten die
Gespräche in Brisbane ganz anders wahrgenommen,
als klare Verhärtung der Fronten.
Russland habe keinen positiven Schritt
unternommen, der eine Geste der EU
rechtfertigen würde, hieß es in den Reihen
der Moskau-Kritiker am Tisch.
Frank-Walter Steinmeier setzte sich am
Ende durch.
Nikolaus Blome, Peter Müller, Christian Neef,
Ralf Neukirch, Christoph Schult

Sie sitzen sich gegenüber, an einem
festlich geschmückten Karree im Rittersaal
des ehemaligen Palastes der
Großfürsten von Litauen. Sechs Meter liegen
zwischen ihnen, aber in Wahrheit trennen
Bundeskanzlerin Angela Merkel und
den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch
in diesem Moment Welten.
Eben hat Janukowytsch gesprochen. Er
hat in gewundenen Sätzen zu erklären versucht,
warum dieser Gipfel der Östlichen
Partnerschaft der EU in Vilnius nicht so
sinnlos ist, wie er jetzt scheint. Und warum
es sich lohne weiterzuverhandeln und er
genauso engagiert wie bisher für eine gemeinsame
Zukunft einstehe. „Wir benötigen
sehr schnell Hilfen von mehreren Milliarden
Euro“, sagte Janukowytsch. Nun
will die Bundeskanzlerin etwas sagen.
Merkel schaut in die Runde der 28
Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union, die sich an diesem Abend in
Vilnius versammelt haben. Dann sagt sie
einen Satz voller Missbilligung und kühlem
Sarkasmus, der direkt an den ukrainischen
Präsidenten gerichtet ist. „Ich komme
mir wie auf einer Hochzeit vor, auf
der der Bräutigam in der letzten Minute
neue Bedingungen stellt.“
Viele Jahre haben die EU und die Ukraine
über ein Assoziierungsabkommen verhandelt.
Sie haben Absichtserklärungen
unterschrieben, Kabinetts- und Parlamentsbeschlüsse
erwirkt, unzählige Delegationsreisen
absolviert, gegenseitige Beteuerungen
ausgetauscht. Und nun, am Abend des
28. November 2013, im Alten Schloss von
Vilnius, wird zur Gewissheit, dass alles umsonst
gewesen ist. Es ist eine Zäsur.erns

Allen ist klar, dass die Bemühungen für
eine Anbindung der Ukraine an die EU
vorerst gescheitert sind. Aber niemandem
ist die Tragweite dieses Abends bewusst.
Niemand ahnt, dass sich aus diesem Scheitern
von Vilnius eine der größten Weltkrisen
seit dem Ende des Kalten Krieges entwickeln
wird, dass dies der Abend ist, der
neue Grenzen in Europa entstehen lässt
und den Kontinent an den Rand eines Krieges
bringt. Es ist der Moment, in dem
Europa Russland verloren hat.

Für die Ukraine wird das Scheitern von
Vilnius zur Katastrophe. Seit seiner Unabhängigkeit
1991 ringt das Land darum, sich
in Richtung EU zu orientieren, ohne die
Beziehungen zu Moskau zu beschädigen. Viele Jahre haben die EU und die Ukraine
über ein Assoziierungsabkommen verhandelt.
Sie haben Absichtserklärungen
unterschrieben, Kabinetts- und Parlamentsbeschlüsse
erwirkt, unzählige Delegationsreisen
absolviert, gegenseitige Beteuerungen
ausgetauscht. Und nun, am Abend des
28. November 2013, im Alten Schloss von
Vilnius, wird zur Gewissheit, dass alles umsonst
gewesen ist. Es ist eine Zäsur.

Die Wahl zwischen West und Ost, vor die
Brüssel und Moskau das Land stellen, hat
fatale Folgen für den fragilen Staat.
Doch die Folgen von Vilnius gehen weit
über die Ukraine hinaus. 25 Jahre nach
dem Mauerfall – und fast 70 Jahre nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs – ist
Europa wieder geteilt. Die Entfremdung
zwischen Russen und Europäern wächst.
Moskau und der Westen stehen sich feindseliger
gegenüber als in der Spätphase des
Kalten Krieges. Es ist eine Realität, die
man in Europa lange nicht zur Kenntnis
nehmen wollte.
Die Vorgeschichte von Vilnius ist eine
Geschichte von Fehleinschätzungen und
Missverständnissen, von Versäumnissen
und blinden Flecken. Sie ist die Chronik
eines außenpolitischen Versagens. Auf allen
Seiten. Russland hat den Willen der
Ukrainer unterschätzt, ihr Land an die EU
heranzuführen, und zu sehr auf seine
machtpolitischen Hebel vertraut.
Die EU hat ein Vertragswerk von rund
tausend Seiten ausgehandelt, doch die
machtpolitischen Realitäten hat Brüssel
ignoriert. Auch in Berlin hat man lang
nicht wahrhaben wollen, wie sehr Russland
sich durch das Vordringen von Nato
und EU nach Osten bedroht sieht. Dass
Moskau bereit sein könnte, eine weitere
Ausdehnung der westlichen Einflusssphäre
gewaltsam zu verhindern, hatte man nicht
auf dem Schirm.
Deutschland ist seiner Verantwortung
in Europa nicht gerecht geworden. Die
Kanzlerin hat Warnsignale ignoriert. Dabei
gilt Außenpolitik als ihre große Stärke,
ihre Königsdisziplin. Merkel hat sich als
Moderatorin bewährt, die Spannungen entschärfen
und konkrete Lösungen erarbeiten
kann. Aber Krisenmanagement allein
macht noch keine gute Außenpolitik. Was
in dieser Krise fehlte, war Weitsicht, die
Fähigkeit, einen aufziehenden Konflikt zu
erkennen. Stattdessen stellte man sich in
Berlin auf den Standpunkt, dass nicht sein
kann, was nicht sein darf.
Es sei Aufgabe Deutschlands und der
EU, sagt Merkel auf dem Gipfel, „stärker
mit Russland zu reden“. Doch die Einsicht
kommt zu spät.

……

Vilnius, Hotel Kempinski, 28. November
2013, 18.30 bis 20.30 Uhr
Sie warten auf Janukowytsch. Es ist das
letzte Mal, dass sie den ukrainischen Präsidenten
treffen, um ihn doch noch zur
Unterschrift zu bewegen, ein eigentlich
aussichtsloser Versuch. Aber Barroso und
EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy
haben sich vorgenommen, das Unmögliche
zu versuchen. Van Rompuy hat zwei Exemplare
des Assoziierungsabkommens mit
* Beim EU-Gipfel in Vilnius am 28. November 2013.
nach Vilnius genommen. Sie könnten sofort
unterzeichnet werden.
Ein paar Minuten später kommt Janukowytsch
mit einem Dolmetscher, dem
ukrainischen EU-Botschafter und einigen
Mitarbeitern. Das ist ungewöhnlich, die
wichtigen Gespräche hat er bisher immer
allein geführt. Die Begrüßung ist kurz, die
Rollen sind vertauscht. Diesmal ist die EU
der Bittsteller. Sie will unbedingt, dass Janukowytsch
unterschreibt.
Barroso ist die Nervosität anzumerken.
Die Wirtschaft der Ukraine werde langfristig
vom EU-Beitritt profitieren. „Polen und
die Ukraine hatten etwa das gleiche Bruttoinlandsprodukt,
als die Berliner Mauer
fiel. Jetzt ist das von Polen dreimal so
hoch“, sagt er. Dann kommt, was man den
Ukrainern als „mutigen Schachzug“ angekündigt
hatte: Barroso gibt zu verstehen,
dass Brüssel die Forderung nach der Freilassung
Tymoschenkos fallenlassen wird.
Sie reden noch immer von Tymoschenko?
Janukowytsch ist entgeistert. Versteht
Brüssel nicht, dass es längst um ganz andere
Themen geht? Das Gespräch wird hitzig.
Van Rompuy, nicht bekannt für überbordendes
Temperament, kann nicht mehr
an sich halten: „Sie handeln kurzsichtig“,
herrscht er Janukowytsch an. „Die Ukraine
hat sieben Jahre verhandelt, weil sie
dachten, es nutzt ihr. Wieso soll es jetzt
nicht mehr nutzen?“
Draußen hat der Empfang für die Staatsund
Regierungschefs längst begonnen. Die
EU-Unterhändler verstehen, dass sie Janukowytsch
nicht mehr umstimmen werden.
Nach zwei Stunden sagt Barroso: „Wir
müssen gehen.“ Van Rompuy und er schütteln
Janukowytsch kurz die Hand, dann
schließt sich die Tür hinter ihnen.
Als die deutsche Delegation unter Führung
der Kanzlerin am nächsten Morgen
Janukowytsch zu einer letzten Besprechung
trifft, ist längst alles entschieden.
Sie tauschen noch einmal die bekannten
Positionen aus, aber das Treffen ist nur
noch eine Farce. In einer der bedeutends -
ten Fragen der europäischen Außenpolitik
hat Deutschland versagt.
Auch Putin hat sich verrechnet. Noch
in der Nacht versammeln sich Tausende
Demonstranten auf dem Maidan. Drei
Monate später flieht Janukowytsch. Putin
annektiert die Krim. Bis heute hat der Konflikt
mehr als 4000 Tote gefordert, im Osten
der Ukraine tobt ein Krieg.
Man habe, sagt Außenminister Frank-
Walter Steinmeier bei seiner Antrittsrede
in Berlin im vergangenen Dezember, vielleicht
unterschätzt, „dass es dieses Land
überfordert, wenn es sich zwischen Europa
und Russland entscheiden muss“. Auch Füle
ist überzeugt, dass die EU die Ukraine vor
eine unmögliche Wahl gestellt hat. „,Tut
uns leid für eure geografische Lage‘, haben
wir ihnen gesagt, ,aber ihr könnt weder
nach Osten noch nach Westen gehen.‘“
Vor allem haben die Europäer Moskau
unterschätzt und seine Entschlossenheit,
eine klare Westbindung der Ukraine zu
verhindern. Sie haben russische Einwände
und ukrainische Warnungen nicht ernst genommen
oder ignoriert, weil sie nicht in
das eigene Weltbild passten. Berlin hat
eine von Prinzipien geleitete Außenpolitik
betrieben, die es geradezu zum Tabu machte,
mit Russland über die Ukraine zu sprechen.
„Unsere ehrgeizige Politik der Öst -
lichen Partnerschaft wurde nicht von einer
ehrgeizigen und einvernehmlichen Russlandpolitik
begleitet“, sagt Füle. „Wir haben
keine Politik gefunden, um uns angemessen
auf Russland einzulassen.“
Russland und Europa haben aneinander
vorbeigeredet und sich missverstanden. In
Ost und West trafen zwei außenpolitische
Kulturen aufeinander, eine westliche Politik,
die sich über Verträge und Paragrafen
definiert – und eine östliche, in der es viel
mehr um Status und Symbole geht.
Vier Monate nach dem Gipfel von Vilnius
wird der politische Teil des Assoziierungsabkommens
zwischen Brüssel und
Kiew doch noch unterzeichnet, weitere
drei Monate später der wirtschaftliche Teil.
Der Preis, den die Ukraine in der Zwischenzeit
gezahlt hat, ist gigantisch. Dieses
Mal bekommt Russland ein Mitspracherecht.
2370 Fragen müssen erst mal mit
Moskau geklärt werden, bevor das Abkommen
in Kraft treten kann. Ein Prozess von
Jahren. Es ist das letzte gemeinsame Thema,
über das Moskau und die EU noch
miteinander sprechen.
Christiane Hoffmann, Marc Hujer,
Ralf Neukirch, Matthias Schepp,
Gregor Peter Schmitz, Christoph Schult


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