Sonntag, 13. März 2016

Der neue Spiegel kommt mit Titelbild und Titelstory etwas sensationsheischend daher:

Die geteilte Nation 

Deutschland 2016 – reich wird reicher – arm bleibt arm



Was allen sozial engagierten Wissenschaftlern und Zeitgenossen, auch vor allem in linken Kreisen seit mehr als einem Jahrzehnt ein vertrauter Gegenstand der Empörung ist, wird hier zu einem völlig neuen Tatbestand ausgebreitet – wofür man nur dankbar sein kann!

Das Titelbild soll zwei Welten in Form zweier übereinander liegender Zimmer zeigen, die durch die o g Überschrift geteilt werden.

Oben ein offenbar (erfolg-) reiches Pärchen in schicker Privatkleidung in einem hohen größeren aber modischen Raum, ohne erkennbaren Bezug zu irgendeiner Erwerbstätigkeit oder ernsthaften Arbeit, eher gelangweilt und ohne Bezug zu so etwas wie privaten Interessen oder zur Gesellschaft. 

Unten ein niedriger Raum, mit der gleichen Fläche, aber bevölkert mit 12 erwachsenen Personen und einem Kind, die sich drängen müssen und sich nur gebückt oder hockend aufhalten und bewegen können. Einige davon mit haushaltsnahen Dienstleistungen beschäftigt und in Arbeitskleidung, andere als Angestellte ohne Arbeitsumgebung, alle eifrig, und eine junge Mutter mit Kindergartenkind in Angestelltenkleidung, alle gebückt und gedrückt, andere ratlos suchend auf den Betrachter schauend oder deprimiert in der Ecke sitzend, offenbar ohne jede persönliche oder gesellschaftliche Perspektive. 

Aber alle, oben wie unten, offensichtlich ohne Bezug zueinander, zur Welt der materiellen Produktion und des produzierten Reichtums an Waren, dessen Verteilung und der Welt des reichlichen Konsums. Auch ohne einen Bezug zur staatlichen Verwaltung der Gesellschaft oder eines gesamtgesellschaftlichen Horizontes. 

Nun kann ein Bild nicht die alle Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit abbilden, aber es ist doch ein ziemlich treffendes Bild, dessen, was der anschließende Artikel dem Leser sagen will und das er in anschaulicher und verständiger Weise erklärt: 

Die Gesellschaft der BRD teilt sich zunehmend in 40 % untere, darin eine große Gruppe ganz unten, eine andere von 10 Prozent ganz oben - und eine mittlere von 50 %, die sich in einer breit gefächerten Mitte bewegen, die aber wohl wegen der Teilungsüberschrift nicht im Bild erscheint. 

Die Hausmitteilung bewirbt die Titelstory so:

Vom Berliner Regierungsviertel in den Soldiner Kiez sind es mit der S-Bahnkeine zehn Minuten, und doch ist die Gegend dort für SPIEGEL-Redakteur Alexander Neubacher geprägt von Armut und Perspektivlosigkeit – und es ist nicht der einzige Ort des Niedergangs. Ein Team von Redakteuren hat in den vergangenen Wochen zahlreiche Gegenden der Republik besucht, in denen sich jene gesellschaftliche Spaltung studieren lässt, die jetzt einer der prominentesten Ökonomen des Landes zum Thema macht: Die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich gefährde nicht nur den sozialen Frieden im Land, sondern bedrohe auch den Wohlstand aller Bürger, behauptet Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. (Hvhg JM)

Es ist sozusagen die Ankündigung eines Anti-„Sinns“ vom IFO München, nachdem dieser abgetreten ist. Und hiermit wird angekündigt, dass auch ein sog. „führender Ökonom“, also einer aus dem Mainstream, den Unsinn des Neoliberalismus anhand seiner ökonomisch schädlichen und sozial bedrohlichen Wirkung anprangert und aufkündigt. 

Danach kommt noch ein Bild aus einer Kunstausstellung, das plakativ die Abgehobenheit und Isoliertheit einer betuchten Oberschicht anhand eines offenbar als reich vorgestellten Paares zeigt, das allein an der Reeling eines Kreuzfahrtschiffes durch anonymisierende Sonnenbrillen ins Nichts starrt, mit der Unterschrift: 

MS Reichtum – mehr als genug.

Und damit der „noch nicht Leser“ weiter eingestimmt wird, diesmal nicht als hilfloser Betrachter einer unerfreulichen gesellschaftlichen Szenerie, sondern mit einem Schubs zur politischen Aktivität, eine Kolumne von Spiegel-Mitbesitzer Jacob Augstein, auch Herausgeber der Wochenzeitung „Freitag“ mit dem Titel

Wir sind der Staat - 

und mitten drin die optimistischen Sätze: 

Was wir gerade erleben, nennt man einen Paradigmenwechsel. Auf einmal erinnern wir uns: Der Staat, das sind ja wir selbst. Es ist das Ende der deutschen Variante der neoliberalen Revolution. 

Ist das mehr als Beschwörung oder Selbstbetrug?

Augstein macht dafür den Flüchtlingszustrom mitverantwortlich, der eine neue Qualität der staatlichen Aktivität und Finanzierung erforderlich mache, ohne den der erforderliche Mut zur Abkehr vom Neoliberalismus nicht gefunden worden sei. 

Man muß das wohl schärfer sehen und sagen: Das von den 50 % mitverschuldete soziale Elend der 40 % mehr oder weniger Armen und Abgehängten, darunter die prekär Beschäftigten, hat die restlichen 50 + 10 % nicht nur nicht gerührt. Vielmehr ist die Mehrheit der neoliberalen Propaganda gefolgt und hat die 40 % als Faulenzer und Schmarotzer diskriminiert, die in Wahrheit Opfer der sozialdemokratisch/grünen Verarmungs- und sozialen Knebelungsgesetzgebung der Agenda 2010 geworden sind. 

Dabei haben die 50 % „Mittelschicht“ bis zu den oberen 10 % auch noch von den billigen Dienstleistungen und die Unternehmer von den Leiharbeitern und Werkverträglern profitiert. 

Wie sich dies mit der enormen Zuwendung und dem Erbarmen für die Flüchtlinge, der „Willkommenskultur“ zusammenreimt – das bleibt wohl nicht nur ein Rätsel der christlichen Kultur des bundesdeutschen Abendlandes. Allerdings ist das nicht wirklich neu: Auch die Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 und die Ostdeutschen nach 1990 wurden mehrheitlich eher als Fremde ausgegrenzt, denn als Landsleute willkommen geheißen.

Der Artikel im Heft macht mit folgender Überschrift und einleitenden Sätzen auf:

Das Schattenreich

Die Deutschen sind stolz auf ihren Wohlfahrtsstaat, doch die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. Wenigen gelingt der Aufstieg aus der Unterschicht. Eine Studie zeigt:  Die Spaltung gefährdet Wachstum und Wohlstand.

Im Artikel wird denn über 9 DIN A4 Seiten in verständiger Weise geschildert und leicht verständlich erläutert, was vernünftige Sozialwissenschaftler und Sozialpolitiker, sowie Ökonomen und Linke spätestens seit der Agenda 2010 von Schröder und Fischer von 2005 diagnostizieren und in jedem Jahresarmutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes im Detail dargestellt und beklagt wird, aber in Wahrheit schon seit 1983 aus der Regierungstätigkeit der „Geistig-Moralischen Wende“ von Helmut Kohl zunehmende Regierungspraxis und gesellschaftliche Wirklichkeit geworden ist: 

Die Herausbildung einer sich verfestigenden Unterschicht aus prekär Beschäftigten, aus Arbeitslosen, aus Einzelpersonen und einem erheblichen Teil alleinerziehenden Frauen und einer zunehmenden Zahl von armen Rentnern. 

Dies nicht nur durch Hartz IV, mit dem Zwang zur Annahme jeder Drecksarbeit zu jedem Lohn, und der Unterwerfung unter das paternalistische „Diktat“ der Arbeitsamtsbetreuer, mit der weitgehenden Einschränkung der normalen Arbeitslosenversicherung und der Abschaffung der Qualifikations- und einkommensbezogenen Arbeitslosenhilfe, sowie der langsamen Absenkung der Renten. Die seit der Agenda sich kumulierende Absenkung des gesamten Lohnniveaus gegenüber der Steigerung des BiP, der Industrieproduktion und, weniger herausgestellt, der laufenden Steigerung der Produktivität und damit dem zunehmenden Zurückbleiben der volkswirtschaftlichen Nachfrage auf dem Binnenmarkt mit dem Zurückbleiben der Konsumnachfrage und der Konsumgüternachfrage. 

Die massiven Steigerungen der Kapitaleinkünfte werden nicht an sich gerügt, sondern vor allem die Steuerprivilegien bei Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer. Auch wird der Exportüberschusses weder grundsätzlich noch sein enormer Umfang kritisiert, sondern das Zurückbleiben der Einkünfte der privaten Dienstleister außerhalb der Finanz- und der Industriesphäre. Vergessen werden dabei die Industriebeschäftigten in Leiharbeit und Werkverträgen zu Dumpinglöhnen. 

Die Verfestigung einer Unterschicht wird einerseits an der Fortsetzung der Verarmung in den Familien in den Laufbahnen der Kinder von den Krippen bis zum Studium festgemacht, aber auch an der Gefangenschaft der im Niedriglohnsektor Beschäftigten in diesem Segment, teilweise etwas verkürzt mit dem Hinweis auf mangelnde Aufstiegschancen. 

Wichtig für die wirtschaftspolitische und allgemein politische Stoßrichtung des Artikels ist der häufige Hinweis, dass die enorme und zunehmende Einkommensspreizung einen erheblichen Verlust an Produktion und Produktivität der Volkswirtschaft mit sich bringe und so auch zu Lasten der Mittelschicht(en), also der Besserverdienenden und Wohlhabenden ginge. Unter anderem sei die selektive und nicht fördernde Struktur der Bildungseinrichtungen und ihre mangelhafte Finanzierung im Effekt auch für den schon vorhandenen und den drohenden Fachkräftemangel und damit für die Bedrohung der künftigen Wettbewerbsfähigkeit der BRD-Industrie verantwortlich. 

Die Vernachlässigung der sozialen und materiellen Infrastruktur sei ein weiterer ernsthafter Bremsfaktor für Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums. 

Insofern sei die Idee, richtiger wohl, die Ideologie des schlanken Staates und des radikalen Abbaus der Staatsverschuldung für die Ökonomie und die Entwicklung der Gesellschaft kontraproduktiv. 

Letztlich könnten sich Ökonomie und Gesellschaft die zunehmende Spreizung der Einkommen und die Spaltung der Gesellschaft auch politisch nicht leisten, weil die Kohäsion und der soziale Friede auf diese Weise nicht erhalten sondern gefährdest werde. 

Die skizzierten Analysen und Positionen sind also keineswegs neu und inhaltlich nicht spektakulär, sondern wären eigentlich sogar nur Ausfluss von verständigem Pragmatismus und ökonomisch die Position eines gemäßigten Keynesianismus. Dass sich dies anders liest, liegt daran, dass es faktisch, wenn auch nur indirekt, ein massiver Angriff auf den Kurs und die Führung der Sozialdemokratie seit Schröder darstellt – und leise nebenbei auch als Kritik an dem Kleinmut und der Kumpanei der Gewerkschaftsführungen mit den Unternehmern. 

Wie ernst ist das nun von der Spiegelchefredaktion gemeint? Ist es einerseits nur ein kleiner Hype für die Steigerung der Auflage, oder der Versuch frühere Leser zurück zu gewinnen? Der vorgestellte Anlaß, das Herauskommen des neuen Buches von Fratscher „Verteilungskampf“, ist etwas dürftig als Begründung für einen solchen Trompetenstoß für den Abschied vom Neoliberalismus, zumindest aber von der deutschen Austeritätspolitik – vulgo von der schwarzen Null. 

Fratscher ist als Präsident des DIW zwar eine für Kenner bekannte und nicht unwichtige Figur unter den bundesdeutschen, staatlich bestallten Wirtschaftsforschern und Beratern. Aber er hat schon mit seinem vorherigen Buch – „Die Deutschland-Illusion“ von 2014, die gleichen Ansichten nachdrücklich und öffentlich in Radio- und Zeitungsinterviews vertreten und tut dies auch heute – ohne bisher in der Fachöffentlichkeit oder in der weithin neoliberal eingenordeten Wirtschaftsressorts der sog. seriösen Presse einen Stich zu machen. 

Die Nachricht ist also nicht eigentlich der Inhalt des Artikels. Der ist, wenn auch gut und frisch erzählt, leider sehr abgestanden, was man nicht den Journalisten sondern der Redaktion vorwerfen muß. 

Die wirkliche Nachricht wäre, dass der Spiegel sich nicht nur scheinbar (?), zum Vorreiter eines wirklich längst fälligen Paradigmenwechsels gegen Neoliberalismus und Austerität aufschwingen würde. 

Ob dies tatsächlich für den Spiegel, bisher einem der schlimmsten Propagandisten der Deregulierung und des Abbaus nicht nur des Sozialstaates, ein Paradigmenwechsel ist, oder gar für seine Verleger und eventuell für weitere Kreise, und eventuell auch ein Umdenken in Kreisen des Kapitals – das ist noch völlig offen – sollte aber aufmerksam begleitet werden. 

Es wäre schon wichtig, ob die Sponsoren der Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus allmählich doch eine andere Therapie von den bisherigen Gesundbetern fordern!


http://www.deutschlandfunk.de/wirtschaft-umwelt-und-verbraucher.1498.de.
htmlhttp://www.deutschlandfunk.de/soziale-ungleichheit-wir-haben-keine-soziale.694.de.html?dram:article_id=348183
http://www.deutschlandfunk.de/vermoegensverteilung-keinen-verteilungskampf-zwischen.769.de.html?dram:article_id=347173http://www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/oekonom-marcel-fratzscher-deutschland-nicht-krisensicher-4114677.htmlhttp://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/gegen-die-ungleichheit-in-deutschland-wird-zu-wenig-getan-kommentar-a-1082017.html

JM 

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